Tibetischer Buddhismus

Mitgefühl und geschickte Mittel

Der tibetische Buddhismus folgt grundsätzlich der Mahayana Tradition, dem „großen Fahrzeug“, dessen besonderes Merkmal das Bodhisattva Ideal ist. Ein Bodhisattva strebt als Heilsziel nicht bloß das Nirvana im Sinne der individuellen Befreiung vom Leiden an, sondern den Buddha Zustand, die vollkommene Ausschöpfung des Potenzials des Geistes, die größtmögliche Perfektion. Grund dafür ist, dass ein Bodhisattva tiefe Einsicht in das Leiden der anderen hat und aus Mitgefühl den Vorsatz fasst, alle Wesen auf dem Weg zur Befreiung zu unterstützen. Um dies auf die bestmögliche Art und Weise zu tun, strebt der Bodhisattva die Buddhaschaft an. Diese Motivation wird Bodhicitta genannt, "Erleuchtungsgeist," oder "Herz des Erwachen".

 

Es gibt prinzipiell zwei Wege zur Erlangung dieses Ziels. Zu einem ist dies der Paramitayana oder Fahrzeug der Vollkommenheiten, bei dem es darum geht bestimmte Tugenden – die Paramitas, welche als Ursache für die Buddhaschaft wirken – zur Vollkommenheit zu bringen. Die Paramitas sind Geben, ethische Disziplin, Geduld, freudvolle Anstrengung, meditative Konzentration und Einsicht. 

 

Zum anderen gibt es den Vajrayana oder Vajra Fahrzeug, bei dem das Resultat – der Buddhazustand und die damit einhergehende reine Sichtweise – anhand besonderer Übungswege (wie das Gottheitenyoga) bereits als Weg eingesetzt wird. Im Vajrayana wird die Praxis der geschickten Mittel betont, die es ermöglichen jegliche Erfahrung besonders effektiv in den Weg zu integrieren, um so noch schneller die vollkommene Erleuchtung zum Wohl der Wesen zu verwirklichen. Eintritt in diesen Weg erfolgt durch eine tantrische Ermächtigung (Initiationsritual), die nur von qualifizierten Meistern, die einer authentischen Übertragungslinie angehören, gegeben werden kann. Die Praxis selbst besteht aus den Meditationen über die sogenannten Stufen der Erschaffung und der Vollendung, welche die Arbeit mit der Vorstellungskraft und dem kreativen Potenzial des Geistes, bzw. mit den subtilen Energien des Körpers betonen.

 

Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass die verschiedenen Methoden nicht im Widerspruch zu einander stehen, sondern sich gegenseitig ergänzen und den Übenden verschiedene Wege der Befreiung bieten.

Studium, Praxis & Alltag

Der tibetische Buddhismus ist bekannt für seine großen Gelehrten und verwirklichten Yogis. In der indischen Tradition wurde der Weg bereits als eine Abfolge von Studium, Kontemplation und Meditation beschrieben. Dem entsprechend wird im tibetischen Buddhismus zu Beginn das Studium authentischer Texte groß geschrieben, um ein gutes Verständnis des Weges zu entwickeln, als stabiles Fundament für die Praxis der Meditation.

 

Eine zentrale Praxis des Buddhismus ist die Geistesschulung im Alltag, die Entwicklung von Achtsamkeit und aktivem Mitgefühl, auch abseits des Meditationskissens, ohne die es unmöglich ist beständigen Fortschritt auf dem Weg zu machen. Meditation und Alltag bilden eine Einheit, sie sind Teil des selben Kontinuums der Erfahrung. Die Abgeschiedenheit der formalen Meditation ist wichtig, um den Geist in Ruhe zu sammeln und so gezielt die heilsamen Geisteskräfte hervorbringen zu können und zu stärken. Ein heilsamer Umgang mit unserer Erfahrung im Alltag wird es dann ermöglichen, die gewonnenen Einsichten in unser Handeln zu integrieren, was wiederum unterstützend für die Meditation wirkt.

 

Im tibetischen Buddhismus gibt es die besonderen Übungen des Geistestrainings (Lojong) auf der Grundlage von Mitgefühl und Bodhicitta und die Übungen der Integration der reinen Sichtweise, die mit den tantrischen Meditationen in Verbindung stehen.